Bücher 2006

Sonntag, Januar 01, 2006

Thomas Wolfe: Schau heimwärts Engel

Griffig, saftig und ein wenig schwülstig, blumig bildreiche Sprache ohne kitschig, platt oder aufdringlich originell zu sein. Seine fantastisch erdigen Speisenbeschreibungen machen mir großen Hunger auf solchen Genuss.
Präzise Schilderungen, manches überschlagend, manchmal verweilend, aber nicht alle Fäden müssen in einer vorbereiteten Pointe enden, sondern es sind Szenen, deren Aneinanderreihung sich aus dem Erlebten der Figuren als eine Auswahl von Geschehnissen aus dem großen Zufalls-Teich ergibt (wie es eigentlich zur Form einer dokumentarischen Erzählung gehört).
Nur, eine Schriftgröße von 11pt ist zu klein! Vor allem für ein Buch, das man nicht schnell liest und das dabei noch 700 Seiten hat.

Er kommt immer wieder auf Bilder mit warmer frischer Erde. Tim Burtons Filme wirken, als hätte er sich die dampfend süß schweren Bilder einverleibt.

23.1.06
Das Buch kommt. Ab 300 Seiten ist es besser lesbar, mehr Dialoge und abwechslungsreichere Sprachstilfolgen. Warum das wohl so oft so ist? Autoren sollten nicht chronologisch schreiben...oder Leser nicht vorne anfangen.
Der kleine Eugene kommt in die Pubertät, fühlt sich anders, kann sich beim Mannschaftssport nicht integrieren, ist verträumt, melancholisch und beobachtend... ohje ... ich erinnere mich durchdringend an das Gefühl, ein Kind und anders zu sein.

9.2.06
Gestern abend 50 Seiten partiell quer gelesen oder übersprungen, damit ich das dicke Buch nicht auf der Hinfahrt nach Berlin auslese und dann herumtragen muss. Am Abend vorher hat mich Bens Tod so unglücklich gemacht, dass ich ein bisschen weinen musste und nicht schlafen konnte. Ben ist eine zart traurige Figur, er ist wunderbar, zurückgezogen und bekommt keine Gelegenheit sich auszufalten. Viele der Figuren sind sehr vielschichtig geworden, weil sie durch die Erzählmethode, einzelne Ereignisse zu schildern, eine Geschichte haben, die man als Leser schon nicht in jedem Detail erinnert. Es werden nicht die Eigenschaften benannt und aufgezählt, sondern entwickelt. Das wirkt sehr großzügig.
Das Ende ist wie die Reprise einer live dirigierten Sinfonie, die Stimmen kommen zusammen und das Thema (gegenseitige Beeinflussung von Ereignissen; große, von uns übersehene Zusammenhänge*) erstrahlt abschließend pompös und gleichzeitig bescheiden verabschiedend.
*erste Seite, taucht wieder auf: "Der Same unseres Verfalls wird in der Wüste blühen, am Fels wächst das Heilkraut, und unser Leben wird von einer Hure aus Georgia heimgesucht, weil ein Londoner Taschendieb ungehenkt blieb. Jeder Augenblick ist die Frucht von vierzigtausend Jahren. Die minutenerntenden Tage summen wie Fliegen heimwärts, dem Tod entgegen, und jeder Augenblick ist ein Fenster, das auf die Zeit hinausweist."